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Beschluss des Landesparteitages vom 26. September 2015

28.09.2015
A 28 - Eine neue Offensive für Europa (Antrag an den Bundesparteitag)

Der Bundesparteitag möge beschließen:

Eine neue Offensive für Europa –
Vorrang für Beschäftigung statt Stagnation und Deflation

1. Die Wirtschaftskrise gefährdet die wirtschaftliche und politische Integration Europas

Europa hat die Wirtschaftskrise infolge des Zusammenbruchs der internationalen Finanzmärkte im Jahr 2008 bis heute nicht überwunden. In vielen EU-Staaten ist das Niveau des Bruttoinlandsprodukts (BIP) immer noch unter dem Vorkrisenjahr 2007. Die Arbeitslosigkeit ist in den meisten Mitgliedstaaten seither gestiegen. In Griechenland, Spanien, Kroatien und Italien ist nahezu jeder zweite, in Zypern, Portugal und Slowakei jeder dritte Jugendliche ohne Job. Selbst Frankreich liegt bei erschreckenden 25 Prozent. Europaweit sind im Saldo knapp 4 Millionen Jobs vernichtet worden. Dies geht einher mit einer extrem ungleichgewichtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Während einige Mitgliedstaaten die wirtschaftliche Krise überstanden haben, verschlechtert sich die Lage in den süd- und einigen osteuropäischen Ländern. Zudem ergeben sich in allen Mitgliedstaaten nochmals zum Teil erhebliche regionale Unterschiede in der Wirtschaftskraft. Insgesamt bewegt sich Europa am Rande einer Deflation.

Die bisherigen politischen Reaktionen der EU und der Mitgliedstaaten haben die Lage nicht genügend verbessern können. Zwar konnten durch das konsequente Eingreifen der Europäischen Zentralbank (EZB) extreme Zuspitzungen der Krise verhindert werden. Inzwischen sind deren (geld)politische Möglichkeiten zur Krisenbekämpfung und vorübergehenden Stabilisierung der Lage aber weitgehend ausgeschöpft. Mit ihrer Politik des billigen Geldes alleine kann es nicht gelingen, die Gefahr einer Deflation im Euroraum dauerhaft abzuwenden. Dies umsoweniger, als die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten und der EU diese Politik konterkariert. Vorherrschend ist eine Austeritätspolitik, die auf eine möglichst rasche Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durch Ausgabensenkungen abzielt und damit prozyklisch wirkt, da die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hiermit reduziert wird. Insbesondere in den Krisenstaaten hat die rigorose Austeritätspolitik mit Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen die ökonomische Krise verschärft und maßgeblich zur Vertiefung der sozialen Spaltung beigetragen.

Die Wirtschaftskrise verstärkt die strukturellen Widersprüche in der europäischen Währungsunion, die sich in der unterschiedlichen Entwicklung der Mitgliedstaaten etwa bei der Produktivität, der Inflation, der Investitionen, der Reallöhne oder der Arbeitslosigkeit niederschlagen. Von besonderer Bedeutung sind die erheblichen Leistungsbilanzungleichgewichte der Euro-Staaten. Da in einer Währungsunion der Wechselkursmechanismus als Instrument der außenwirtschaftlichen Anpassung nicht mehr zur Verfügung steht, erfordern diese strukturellen Differenzen eine abgestimmte Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik, wenn ein Auseinanderdriften der verschiedenen Eurostaaten und damit eine Gefährdung der Währungsunion verhindert werden soll.

Deutschland nimmt die Führungsrolle, die es aufgrund seiner Größe und wirtschaftlichen Stärke einnehmen müsste, nicht ausreichend bzw. unangemessen wahr. Die deutsche Politik orientiert sich nicht an den Erfordernissen der Euro-Zone als Ganzer sondern richtet sich an kurzsichtig definierten nationalen Interessen aus. Statt durch eine deutliche Steigerung der Binnennachfrage durch eine offensive Lohnpolitik und drastische Ausweitung der öffentlichen Investitionen eine Lokomotivfunktion für die europäische Wirtschaft wahrzunehmen, sitzt Deutschland mit seiner Austeritätspolitik im Bremserhäuschen. Damit zwingt es alle europäischen Staaten in eine Politik der Haushaltskonsolidierung und Ausgabenkürzung, die eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung in Europa verhindert.

Diese Politik bildet inzwischen einen Nährboden für eine sinkende Akzeptanz der EU bei der Bevölkerung. Sie ist zugleich eine Ursache für das Erstarken nationalistischer Bewegungen, nicht nur aber vor allem auf rechtsextremer Seite. In allen Staaten haben sich rechtspopulistische bzw. rechtsextreme Parteien etabliert, die eine Renationalisierung befürworten. Die Gefahr der Rückkehr zu einem Europa der Nationalstaaten und eine dauerhafte Beschädigung der Demokratie sind keineswegs ausgeschlossen.

Ein politisches „weiter so“ gefährdet die europäische Einigung und droht zu einem Rückfall in ein nationalstaatliches Europa des zwanzigsten Jahrhunderts zu führen. Wir brauchen eine neue Offensive für Europa.
2. Wir brauchen eine neue Offensive für ein Europa der Prosperität, Nachhaltig-keit und sozialen Gerechtigkeit

Die Bewältigung der europäischen Herausforderung ist von fundamentalem Interesse für Deutschland, denn ohne Zweifel ist der gemeinsame europäische Binnenmarkt zusammen mit der Währungsunion eine wesentliche Voraussetzung für die internationale Stärke der deutschen Wirtschaft. Die Währungsunion war in den 1990er Jahren politisch motiviert und nicht logische Konsequenz eines geeinten Wirtschaftsraumes. Drei Motive waren dominant: Die Festigung der politischen Einbindung Deutschlands in die europäische Integration gerade nach der Wiedervereinigung sowie die Beseitigung der gravierenden negativen Auswirkungen der Währungsspekulationen auf die Realwirtschaft. Die Währungsunion war ein zentrales Element zur Schaffung des europäischen Binnenmarktes, dem wichtigsten Projekt zur Stärkung der europäischen Volkswirtschaften in der globalen Konkurrenz. Diese Motive sind auch heute noch von herausragender Bedeutung.
 
Als Folge der Finanzmarktkrise 2008 und der dadurch notwendigen Bankenrettungen ist die Staatsverschuldung in den meisten EU-Staaten erheblich gestiegen. In Verbindung mit ohnehin schon problematischen Verschuldungssituationen hat dies zu Refinanzierungskrisen einiger Mitgliedstaaten geführt, die bei drastischen Zuspitzungen auch einen Staatsbankrott in einige Ländern nicht ausgeschlossen erscheinen lassen. Von konservativen und neoliberalen Kräften wird oft behauptet, dies sei vor allem eine Angelegenheit der betroffenen Staaten. Die immer wieder vorgebrachte Forderung nach einem Austritt einzelner Staaten aus dem Euro ist jedoch keine Lösung. Sie ignoriert, dass bei einem eventuellen Staatsbankrott sich erhebliche negative Rückwirkungen auf alle Staaten der Währungsunion ergeben. Einerseits würden kurzfristig erhebliche Kosten wegen des Schuldenausfalls entstehen. Andererseits wären Spekulationswellen der Finanzmärkte gegen andere Euro-Staaten zu erwarten, die ebenfalls Konsolidierungsprobleme aufweisen. Insgesamt wäre eine weitere Destabilisierung der Währungsunion die Folge.

Ein Rückfall in vor allem an nationalen Interessen ausgerichtete Politiken oder gar eine schrittweise Zerstörung der europäischen Währungsunion sowie eine Abkehr vom Euro würde keines der heutigen Probleme lösen, sondern eine Vielzahl neuer Probleme schaffen und die aktuelle Wirtschaftskrise vertiefen. Damit wäre auch der europäische Binnenmarkt, der eine wesentliche Basis für den wirtschaftlichen Erfolg der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten bildet, gefährdet. Die wirtschaftlichen Perspektiven Deutschlands sind untrennbar mit den Perspektiven der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten verbunden.

Wir brauchen eine neue Offensive für Europa, die eine dauerhafte Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes und der Währungsunion zum Wohle der Menschen bewirkt. Hier liegt der wesentliche Schlüssel zur Stärkung der sozialen Dimension. Ein soziales Europa ist ohne eine drastische Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit und die Herstellung von mehr Verteilungsgerechtigkeit Makulatur. Durch umfassende Kooperation und Verflechtung muss es gelingen, mehr Wohlstand für alle Länder und Bürgerinnen und Bürger Europas zu schaffen, um damit die Basis für eine friedvolle Entwicklung ganz Europas zu ermöglichen. Dieses Leitbild der EU seit ihrer Gründung muss wieder handlungsleitend werden.

Tragfähig kann nur eine Politik sein, die nationale Handlungsspielräume und Eigenverantwortlichkeit mit einer stärkeren europäischen Vereinheitlichung für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verbindet, die nachhaltiges Wachstum fördert und dadurch die Basis für eine konsequente Konsolidierung der öffentlichen Haushalte schafft sowie Spielräume für sinnvolle und sozial ausgewogene nationale Reformen eröffnet. Eine solche Politik muss Anreize für die Mitgliedstaaten bieten, diese Schritte mitzugehen. Gleichzeitig bedarf es geeigneter Instrumente, um ein gemeinschaftsschädliches Trittbrettfahrer-Verhalten zu unterbinden. Deutschland kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Es muss seine engstirnige und nur auf nationale Wettbewerbsvorteile ausgerichtete Austeritätspolitik aufgeben und stattdessen gemeinsam mit Frankreich die Lokomotivfunktion für nachhaltiges Wachstum übernehmen.
Eine neue Offensive für Europa ist nur etappenweise durchsetzbar. Grundbedingung ist die Überwindung der langanhaltenden Wirtschaftskrise durch eine europäisch koordinierte Wachstumspolitik sowie die Vollendung der Bankenunion und die weitere Regulierung der Finanzmärkte, um eine Wiederholung der Finanzmarktkrise von 2008 auszuschließen. Wesentliche Felder dieser Abkehr von der Austeritätspolitik sind:
- eine umfassende Steigerung der privaten wie öffentlichen Investitionstätigkeit,
- die konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und sozialen Spaltung sowie die Stärkung der Tarifautonomie,
- die Finanzierung dieser Politik durch die bestehende Flexibilität der europäischen Wirtschaftspolitik im Rahmen des europäischen Semesters sowie durch die Bekämpfung von Steuervermeidung,
- die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in Europa und die Vollendung der Bankenunion,
- die kurzfristige Stabilisierung der Euro-Krisen-Länder.

Dieser Politikwechsel erfordert das Zusammenspiel nationaler und europäischer Maßnahmen und Instrumente, wobei die jeweilige nationale Politik die spezifi-schen nationalen Strukturprobleme adressieren muss. Dabei werden sich die notwendigen Reformen in den verschiedenen Mitgliedstaaten durchaus unterscheiden. Die nationalen Besonderheiten machen maßgeschneiderte Lösungen erforderlich.

Eine derart veränderte Politik, die im Rahmen der bestehenden europäischen Verträge umsetzbar ist, hätte eine deutliche Milderung der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Problemlagen zur Folge. Dies wäre wiederum die Basis für Maßnahmen zu einer dauerhaften Stabilisierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die auch Änderungen der europäischen Verträge erfordern würde. Im Kern geht es darum, die Währungsunion so zu vertiefen, dass weder wirtschaftliche Krisenprozesse noch die Politik einzelner Mitglieder, die die Vorteile einer Währungsunion egoistisch und zum Schaden der anderen Beteiligten ausnutzen, den Bestand der Währungsunion gefährden können. Zudem muss die Wirtschafts- und Währungspolitik umfassend demokratisiert werden und vollständig unter das Vertragswerk der EU gebracht werden. Im Einzelnen erfordert dies:
- eine europäische Koordinierung der Wirtschaftspolitik, die nicht nur stabilitätspolitische sondern gleichgewichtig auch beschäftigungs- und wachstumspolitische Ziele verfolgt und umfassend demokratisch legitimiert ist.
- eine teilweise Vergemeinschaftung der öffentlichen Schulden in der Euro-zone durch die Einführung eines Schuldentilgungsfonds für alle Schulden über 60% des BIP.
- eine verpflichtende Begrenzung der Neuverschuldung entsprechend dem mittelfristigen nominalen Wirtschaftswachstum.
- die Schaffung einer umfangreichen und dauerhaften europäischen Investiti-onskapazität zur Förderung von nachhaltigem Wachstum in der Eurozone und als Instrument für eine antizyklische Wirtschaftspolitik.

3. Abkehr von der Austeritätspolitik

3.1. Investitionsoffensive für Deutschland und Europa
Lag die Investitionsquote in Deutschland im Jahr 2000 noch bei über 21 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ist sie heute auf etwa 17 Prozent gesunken. Während die Gesamtheit der Unternehmen in Deutschland vor 20 Jahren noch fast die Hälfte der Gewinne wieder ins Unternehmen steckte, sind es heute oftmals nicht einmal mehr als 10 Prozent, obwohl die Gewinne der Unternehmen im gleichen Zeitraum anstiegen – um mehr als das Doppelte.

Noch verheerender ist der Investitionsstau bei den öffentlichen Investitionen: Seit 2000 sind die Nettoinvestitionen rückläufig, seit 2003 sogar negativ. Das bedeutet, dass die staatlichen Investitionen nicht einmal mehr ausreichen, um den Substanzverlust aufzuhalten. Der Substanzverzehr schreitet seit über 10 Jahren voran. Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich, die schwarze Null als goldenes Kalb der Finanzpolitik hochzuhalten, wenn sie nur mit roten Zahlen beim volkswirtschaftlichen Vermögen erkauft werden kann.

Investitionen sind das ökonomische Verbindungsglied zwischen Gegenwart und Zukunft. Wer nicht mehr investiert, untergräbt die künftigen Chancen für Wachstum, Entwicklung und sozialen Ausgleich. Daher ist der Befund über die ökonomische Wirklichkeit so alarmierend!
Öffentliche Investitionen: Eine Frage der Finanzierung
Bei den öffentlichen Investitionen geht es vor allem um die Frage, wie zusätzliche Investitionen finanziert werden können. Keiner weiß dies so gut, wie die sozialdemokratischen Finanzminister der Länder und die Kämmerer in den Städten und Gemeinden. Wer die Handlungsfähigkeit des Staates in Zeiten der Schuldenbremse erhöhen will, muss die Einnahmen der öffentlichen Hand grundlegend verbessern. Richtigerweise hat die SPD die Finanzierungsfrage daher in den letzten Jahren wieder stärker in den Mittelpunkt gestellt und mit dem Wahlprogramm 2013 konsistente und richtige Antworten entwickelt.
Wir bekräftigen unsere steuerpolitischen Forderungen des letzten Wahlpro-gramms und fordern ergänzend eine Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge ab 2017 und eine Versteuerung derselben im Rahmen der Einkommenssteuer.

Zurzeit wird diskutiert, ob und wie privates Kapital zur Finanzierung langfristiger Infrastrukturinvestitionen genutzt werden kann. Traditionelle Modelle von Public-Privat-Partnership lehnen wir ab, weil die Investitionsfinanzierung hier, wie die Rechnungshöfe belegt haben, in der Regel die öffentliche Hand deutlich teurer kommt als bei klassischer Finanzierung.
 
Wir fordern, dass mögliche neue Instrumente zur Einbeziehung privaten Kapitals folgende Anforderungen erfüllen:
- keine Privatisierung öffentlicher Infrastruktur durch die Hintertür,
- vollständige Kontrolle der öffentlichen Hand über die Investitionsentscheidungen,
- Kosteneffizienz,
- Keine Subventionierung des Finanzsektors durch Gewährung von Gewinnmargen oberhalb der Zinssätze für öffentliche Verschuldung.

Eine Subventionierung des Finanzsektors durch nicht marktgerechte Zinsen lehnen wir dabei ab.

Private Investitionen: Eine Frage der Nachfrage
Anders als bei den öffentlichen Investitionen spielt die Finanzierungsfrage bei privaten Investitionen gerade in Zeiten extrem niedriger Zinsen nur eine geringe Rolle. Wichtiger aus Sicht vieler Unternehmer ist hingegen weiterhin zunächst die Frage, ob die zusätzliche Produktion überhaupt genügend Nachfrage finden wird.

Die wesentliche Ursache der Investitionszurückhaltung besteht in der schwachen binnenwirtschaftlichen Nachfrage. Dies zu ändern erfordert zu allererst, die Konsumnachfrage wieder stärker zum Gegenstand wirtschaftspolitischer Überlegungen zu machen und zentrale Hemmnisse ihrer Ausweitung noch klarer als bisher zu identifizieren. Der Mindestlohn ist deshalb ebenso wirtschaftspolitisch relevant wie eine aktive Lohnpolitik. Höhere Arbeitseinkommen sind eine wesentliche Bedingung für eine Stärkung der Konsumnachfrage, da diese die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigert und damit erst die Bedingung für die Ausweitung der Unternehmensinvestitionen schafft. Löhne sind eben nicht nur Kosten. Gesamtwirtschaftlich bestimmen sie auch die Höhe der Umsätze.

Wir befürworten eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, die die Spielräume für Lohnerhöhungen vollständig ausschöpft. Mittelfristig sollte diese eine Umverteilungskomponente zugunsten der Lohneinkommen enthalten. Das ist nicht nur geboten, um die starke Umverteilung zugunsten der Gewinne und Kapitaleinkommen in den letzten 15 Jahren zu korrigieren. Die Steigerung der volkswirtschaftlichen Lohnquote ist vielmehr auch notwendig, damit Deutschland eine starke Lokomotivrolle für die europäische Wirtschaft übernimmt. Die wäre auch ein Beitrag, der es Krisenländern erleichtert, ihre Leistungsbilanzdefizite und die damit ver-bunden Verschuldung abzubauen.

Zur Stärkung der Binnennachfrage fordern wir darüber hinaus eine steuerliche Entlastung unterer und mittlerer Einkommen sowie eine Erhöhung der Sozialtransfers im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitslose und im Alter.
 
Die Stärkung der Nachfrage von Beschäftigten mit geringerem Einkommen und Sozialtransferbeziehern muss aber durch einen Beitrag der hohen Ein-kommensempfänger und Unternehmen gegenfinanziert werden!

Flankierung durch eine europäische Investitionsoffensive und Industriepolitik
Was für Deutschland gilt, gilt leider auch für den Rest Europas. Die Investitionstätigkeit des europäischen Unternehmenssektors wie auch der öffent-lichen Hand ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Die Nettoinvestitionsquote der EU betrug 2001 noch 8,2 Prozent und ist derweil bei 3,8 Prozent angelangt.
Das von der EU-Kommission vorgestellte Investitionsprogramm und der dazu eingerichtete Europäische Fonds für Strategische Investitionen sind lediglich erste Schritte. Das Versprechen, mit 21 Mrd. € öffentlicher Mittel Investitionen in Höhe von 315 Mrd. € auszulösen, scheint wenig realistisch.

Deswegen fordern wir eine deutliche Aufstockung und eine Verstetigung des Fonds. Zudem muss der Fonds in die Lage versetzt werden, auch öffentliche Investitionen zu finanzieren. Dazu bedarf es einer Ausweitung der öffentlichen Mittel und Mitfinanzierung durch die Mitgliedstaaten.

Die europäische Investitionsoffensive muss auf Investitionen in Bildung und Wissenschaft, Infrastruktur und regenerative Energien fokussiert und durch die bestehenden Kohäsions- und Strukturfonds sowie andere Mehrjahrespro-gramme flankiert werden. Dabei müssen die sektoralen Unterschiede der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. In Ländern, in denen administrative Schwächen die Umsetzung des Wachstumspaktes blockieren, müssen gezielte Implementationshilfen der EU die Programme zum Erfolg führen. Eine solche großdimensionierte Wachstumspolitik würde mehrere Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen und wäre ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung.

3.2. Bekämpfung von Steuervermeidung, Steuerhinterziehung und Steuer-flucht - Einführung der Finanztransaktionssteuer

Steuervermeidung, Steuerhinterziehung und Steuerflucht sind eine wesentliche Ursache für die mangelnden Staatseinnahmen und damit für die steigende Staatsverschuldung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Neben Luxemburg wenden 22 von 28 europäischen Staaten die sogenannten tax rulings an. Berechnungen kommen zu dem Ergebnis, dass jährlich 1000 Milliarden Euro durch Steuervermeidung und -hinterziehung verloren gehen. Hauptprofiteure sind multinationale Konzerne, die ihre Steuerlast hierdurch minimieren, obwohl sie erhebliche Gewinne einfahren. Ebenso gehen der öffentlichen Hand durch Mehrwertsteuerbetrug erhebliche Mittel verloren. Deshalb gilt es, auf die Beseitigung dieser steuerpolitischen Missstände einen Fokus unserer Politik in Europa zu legen, gerade auch um eine sozial gerechte Finanzierung staatlicher Ausgaben zu erreichen.

Konkret fordern wir:
- Bestehende Schlupflöcher in der Unternehmensbesteuerung, speziell für Großkonzerne, müssen geschlossen werden. Um Steuervermeidung grenzüberschreitend tätiger Unternehmen einzudämmen, sollen diese offenlegen, wo sie welche Gewinne erzielen und welche Steuern entrichten. Die Staaten müssen verpflichtet werden, tax rulings - durch die einzelnen Konzernen besondere Steuervergünstigungen gewährt werden - zu veröffentlichen. Das europäische Beihilferecht muss Anwendung finden, wenn einzelne Unternehmen gesondert behandelt werden.
- Wir benötigen in der Unternehmensbesteuerung eine europäische Harmonisierung der Bemessungsgrundlage und die Festlegung eines Mindeststeuersatzes.
- Mehrwertsteuerbetrug ist konsequent zu bekämpfen.
- Die Einführung einer Finanzmarkttransaktionssteuer mit breiter Bemes-sungsgrundlage. Die Steuer soll möglichst rasch auf den gesamten Euro-Raum ausgeweitet werden. Die Finanztransaktionssteuer dient dazu spe-kulativen Transaktionen auf den Finanzmärkten weiter zurückzudrängen und wird zugleich erhebliche neue Steuereinnahmen zur Folge haben.

Die durch diese Maßnahmen zu generierenden zusätzlichen Finanzmittel verbessern die Einnahmesituation der Mitgliedstaaten erheblich. Sie sind zur Finanzierung der geforderten Investitionsinitiative und der Schuldenbremse heranzuziehen und ermöglichen gleichzeitig eine notwendige Steigerung der Zuweisungen der Mitgliedstaaten an den EU-Haushalt, um die Finanzierung neuer Aufgaben im Rahmen der Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion zu ermöglichen.
3.3. Vollendung der Bankenunion
Fehlende Regulierung und Kontrollen, komplexe Strukturen und hochriskante Spekulationen auf den Finanzmärkten bildeten den Nährboden für die Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Fokus der Finanzindustrie lag auf Profitgier und kurzsichtigem Denken. Ihre eigentliche Aufgabe, die reale Wirtschaft mit den nötigen Mitteln für Investitionen zu versorgen und damit Wachstum und Beschäftigung zu fördern, hat sie sträflich vernachlässigt. Im Gegenteil: Der Finanzmarktcrash 2008 hat die Realwirtschaft massiv geschädigt.

Den europäischen Bürgern hatte die Politik eine umfassende regulatorische Antwort auf die Krise in Aussicht gestellt: Kein Finanzmarktakteur, kein Fi-nanzprodukt und kein Finanzmarkt dürfen mehr unreguliert bleiben! Kein Staat soll mehr von strauchelnden Banken mit in den Strudel gezogen werden können. Der europäische Finanzmarkt darf nicht ein unkontrollierter Risikofaktor bleiben, sondern soll wieder zu einem verlässlich funktionierenden Wirtschaftssektor werden, der die Zahnräder der Realwirtschaft ölt und Investitionen ermöglicht.

Die europäische Politik hat inzwischen viele wesentliche Schritte auf dem Weg zu einer Bankenunion mit den drei Säulen europäische Aufsicht, Einlagensicherung und Abwicklungsmechanismus unternommen. Inzwischen sind die 133 größten Banken in Europa, die 80% der Bankaktiva auf sich vereinigen, einer
 
europäischen Aufsicht durch die Europäische Zentralbank unterstellt. Die anderen Banken werden weiterhin national beaufsichtigt, wobei die EZB auch hier Eingriffsrechte besitzt. Darüber hinaus wurde ein verbindlicher Rahmen für den Aufbau nationaler Einlagensicherungssysteme, strengere Regelungen für die Eigenkapitalanforderungen und einheitliche Regelungen zur Abwicklung von Finanzinstituten verabschiedet. Schließlich wurde ein Abwicklungsmechanismus für insolvente Banken verabredet, der über einen Fonds finanziert werden soll. Dieser Fonds soll bis zum Jahr 2025 mit Kapital im Umfang von 55 Mrd. € von den Banken ausgestattet werden. Angesichts der finanziellen Dimension möglicher Insolvenzverfahren ist die Kapitaldeckung viel zu gering.

Deshalb fordern wir,
- den Kapitalaufbau auszuweiten und zu beschleunigen.
- Initiativen zur Neustrukturierung des Bankensystems.
- eine Trennung des normalen Bank- und Kreditgeschäftes vom spekulati-ven Investment-Banking, um zu erreichen, dass die Finanzierung der Realwirtschaft nicht mehr durch Finanzkrisen beeinträchtigt wird.

4. Europäische Strukturveränderungen

Der Übergang zu einer wachstumsorientierten Politik muss durch strukturellen Reformen in der Eurozone begleitet werden, die zu einer dauerhaften Stabilisie-rung des Euro erforderlich sind. Dabei muss das europäische Instrumentarium geschaffen werden, um konstruktiv mit den strukturellen Differenzen innerhalb der Währungsunion umzugehen. Schließlich muss die Wirtschafts- und Wäh-rungspolitik der EU demokratischer Kontrolle unterworfen werden.

4.1. Für eine effektive wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU
Der Übergang zu einer neuen wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik erfordert eine engere, institutionell abgesicherte politische Koordinierung in der EU, die in einem ersten Schritt eine entsprechenden Umgestaltung bestehender Institutionen und Verfahren erfordert. Dazu bietet es sich an, dass Koordinierungsverfahren im Rahmen des europäischen Semesters weiterzuentwickeln.

Stärkere und verbindlichere Koordinierung heißt nicht weitere Zentralisie-rung. Die europäische Union muss aber die Aufgaben besser ausfüllen, die die Mitgliedstaaten allein im europäischen Binnenmarktes und der Europäischen Währungsunion nicht wahrnehmen können. Die diesbezüglichen Verfahren müssen zugleich umfassend demokratisiert werden. Wichtige wirtschaftspolitische Rahmensetzungen dürfen zukünftig nicht mehr hinter verschlossenen Türen zwischen der EU-Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt werden, sondern müssen Gegenstand demokratischer Verfahren und Entscheidungen werden. Der so festzulegende Rahmen muss hinreichende Spielräume zur je nationalen Ausgestaltung in den Mitgliedstaaten bieten.
Wir fordern
- die Stärkung der haushaltspolitischen Spielräume der EU
Die konsequente Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -vermeidung auf europäische Ebene sowie die Einführung einer Finanztransaktionssteuer verbessert die Finanzsituation der Mitgliedstaaten. Ein Teil der erst durch die europäische Koordinierung erzielbaren Steuereinnahmen muss von den Mitgliedstaaten durch eine dauerhafte Erhöhung der Beiträge der Mitgliedstaaten an die EU weitergegeben werden.
- die Ausweitung des Zielkatalogs der europäischen Wirtschafts- und
Währungspolitik
Neben dem bisher dominanten Stabilitätsziel müssen gleichberechtigt die Ziele angemessenes Wirtschaftswachstum, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht vertraglich verankert werden. Dabei sind die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten bei Abweichung von den gemeinschaftlichen Zielsetzungen anzupassen.
- Umfassende Einbeziehung der Parlamente
Das Europäische Parlament muss bei der wirtschaftspolitischen Koordinierung im Rahmen des Europäischen Semesters in vollem Umfang mitentscheidungsberechtigt sein. Die jeweiligen länderspezifischen Politikempfehlungen müssen zudem in den jeweiligen nationalen Parlamenten diskutiert und zur Abstimmung gebracht werden.

4.2. Europäischer Schuldentilgungsfonds
Die Staatsverschuldung hat sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Staaten der Eurozone. Während der Schuldendienst in einigen Staaten keine besonderen haushaltspolitischen Probleme erzeugt, sind in anderen Staaten die finanzpolitischen Spielräume erheblich eingeschränkt. Im Falle langanhaltender wirtschaftlicher Krisen kann bei einigen Staaten selbst eine Staatsinsolvenz nicht ausgeschlossen werden. Diese Risiken bedrohen die Eurozone als Ganzes. Aber auch ohne eine krisenhafte Zuspitzung erzeugt diese Situation eine hohe Abhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten und biete so ein Einfallstor für Spekulation. Deswegen muss eine gemeinschaftliche Lösung für die Verschuldung in der Eurozone gefunden werden.

Aus diesem Grund fordern wir, die vom Sachverständigenrat für wirtschaftli-che Entwicklung erhobene Forderung nach Einrichtung eines Schuldentil-gungsfonds wieder aufzugreifen, zu konkretisieren und umzusetzen. Die die nationale Schuldenquote in Höhe von 60% des BIP überschreitenden Schulden sollen in einen gemeinsamen Schuldentilgungsfonds überführt werden und in möglichst gleichen Schritten, angepasst an das wirtschaftliche Wachstum in einem Zeitraum von 50 oder mehr Jahren beginnend mit dem Jahr der Einrichtung des Fonds getilgt werden. Die Finanzierung des Fonds erfolgt von den Mitgliedstaaten unter der Berücksichtigung ihrer fiskalischen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die dazu erforderlichen Mittel sind aus dem EU-Haushalt bereitzustellen, wobei dazu die Zuweisungen aus den Mitgliedstaaten entsprechend erhöht werden müssen.
 
Der Schuldentilgungsfonds ermöglicht es, dass die Schulden wirtschaftsschwächerer Länder auch dauerhaft zu möglichst niedrigen Zinsen bedient werden können, ohne dass das Zinsniveau in den Ländern mit geringerer Verschuldung erhöht wird. In Verbindung mit der Begrenzung der Neuverschuldung kann so sichergestellt werden, dass die Verschuldung in Europa nicht erhöht wird und über einen sehr langen Zeitraum getilgt werden kann. Dadurch wird die Gefahr beseitigt, dass die Finanzmärkte durch Spekulationswellen einzelne Länder an den Rand eine Staatsinsolvenz bringen und damit die Währungsunion insgesamt bedroht wird.

4.3. Begrenzung der Neuverschuldung
Die Finanzierung der wachstumsorientierten Politik kann nicht dauerhaft über eine weitere Ausweitung der Verschuldung erfolgen. Im Gegenteil: Die extrem hohe öffentliche Verschuldung vieler Mitgliedstaaten kann nicht länger hingenommen werden, weil sie auch in Staaten, die nicht insolvenzbedroht sind, die Politik in eine extreme Abhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten bringt. Zudem ist es wirtschaftlich unsinnig, in Zeiten guter Konjunktur als Staat von Vermögenden Geld zu leihen und dafür Zinsen zu zahlen, anstatt den ordentlichen Weg der Staatsfinanzierung über Steuern und Abgaben zu wählen.
Deswegen fordern wir:
Die Einführung eines Verbotes der Neuverschuldung der Mitgliedstaaten über deren jährliche Wachstumsrate bzw. über die absolute Verschuldung in Höhe von 60 Prozent des BIP hinaus auf der Basis einer quantitativ ausreichenden sozial gerechten Besteuerung.

Damit wird gewährleistet, dass der erreichte Schuldenstand der einzelnen Staaten im Verhältnis zu deren Bruttoinlandsprodukt eingefroren wird. Eine eventuelle in Konjunkturkrisen notwendige Erhöhung der Neuverschuldung darf nur noch durch die EU-Kommission mit Zustimmung des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments erfolgen. Die Schuldenbremse ist im Rahmen der EU-Verträge festzuschreiben und soll den außerhalb der EU-Verträge vereinbarten sogenannten Fiskalpakt ersetzen.

4.4. Schaffung einer europäischen Investitionskapazität
Die Einführung einer konjunkturgerechten, effektiven Schuldenbremse macht den Aufbau einer fiskalischen Kapazität für eine antizyklische Wirtschaftspolitik im Falle einer wirtschaftlichen Krise erforderlich, weil andernfalls die Regularien der Wirtschafts- und Währungsunion krisenverschärfend wirken. Zu diesem Zweck sind die Möglichkeiten zur Förderung von öffentlichen und privaten Investitionen durch die EU erheblich auszuweiten und zu verstetigen. Mit einem weiterentwickelten Europäischen Fonds für Strategische Investition wäre dieses entsprechende Instrument schon geschaffen. Der Fonds unterliegt der Rahmensetzung und Kontrolle des Europäischen Parlaments. Über den Fonds müsste auch eine zeitlich begrenzte Ausweitung der Verschuldung in Krisenphasen möglich sein, um etwaige notwendige Konjunkturprogramme zu finanzieren.